Samstag, 2. Juli 2011
Die Grundwerte der Demokratie
Das Naturgegebene vom politisch Verhandelbaren zu unterscheiden, ist nicht einfach, aber unverzichtbar. – Vier Samstage eine exklusive Leseprobe aus den Erinnerungen von Joaquín Navarro-Valls, Pressesprecher des Vatikan von 1984 bis 2006.


Rom (kath.net)
Ich möchte hier nur einige wenige Beobachtungen zu einer Frage formulieren, die sich in den vergangenen Tagen mit neuer Aktualität gestellt hat und die Gewissensfreiheit und gleiche geschlechtliche Würde der Bürger thematisiert. Wohlgemerkt: Ich spreche nicht von Homosexuellen.Ich spreche von Personen. Fragen wie diese rühren an die eigentlichen Werte der Demokratie – Werte, auf die, wie ich meine, wohl niemand ernsthaft verzichten will.

Deshalb ist es sehr wichtig, einen Moment innezuhalten und über die Bedeutung der Dinge, die gesagt, und der Begriffe, die verwendet worden sind, nachzudenken. Zunächst einmal hat das Leben in einem demokratischen Staat eine ganz besondere Bedeutung, weil es eine breite Basis gemeinsamer Werte betrifft und voraussetzt wie etwa die Freiheit der Bürger und ihre Ausübung in der gesellschaftlichen Realität. Die demokratische Ordnung nämlich ist eine Regierungsform, in der sich die Bürger eben nicht damit begnügen müssen, dass ihnen hin und wieder irgendjemand dieses oder jenes Recht oder diese oder jene Freiheit einräumt. Unsere Demokratien gründen sich vielmehr auf die unerschütterliche Anerkennung einer Reihe unveräußerlicher Rechte und auf die gleiche und von allen zutiefst gelebte Würde aller Menschen.

In Italien sind diese absolut grundlegenden Werte in den Artikeln 2 und 3 der Verfassung festgeschrieben, und das ist alles andere als eine abstrakte Formalität oder Selbstverständlichkeit: Die Grundwerte der Demokratie eines großen Landes werden durch die Dynamik seines gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens immer wieder neu zur Diskussion gestellt, weil man diese Ideale als ganz konkrete Weisen wahrnimmt, den zentralen Wert der Gleichheit umzusetzen, zu denken und zu überdenken.

Besagter Wert bedeutet, dass alle Bürger von vorneherein das gleiche Recht auf Freiheit besitzen. Dieses Vorrecht hat verschiedene Abstufungen und wird schrittweise verwirklicht. Die erste Form der Gleichheit besteht immer in der Anerkennung, dass es allen Menschen freisteht, ihre eigene Freiheit auszuüben und, wenn sie dies für moralisch ratsam halten, aus Gewissensgründen auch die Erfüllung bestimmter gesetzlicher Pflichten zu verweigern.

Damit soll verhindert werden, dass die wirtschaftlichen, politischen, geschlechtlichen und kulturellen Unterschiede soziale Ungleichheiten herbeiführen, die die ungehinderte und beständige Ausübung der Wahlfreiheit eines jeden Mitglieds der Gemeinschaft beeinträchtigen würden.


Heute vertreten viele die Ansicht, diese Idee der Gleichheit sei in unserem sozialen Gefüge bedroht, und diese Bedrohung äußere sich in diskriminierenden und intoleranten Verhaltensweisen gegenüber Minderheiten. Aber wissen wir eigentlich, wovon wir sprechen, wenn wir diese Begriffe in der aktuellen Debatte verwenden?

Es scheint mir sehr wichtig, nicht aus den Augen zu verlieren, was mit der „gleichen Würde der Personen“ und den „unveräußerlichen Rechten des Menschen“ tatsächlich gemeint ist. Diese Begriffe beziehen sich auf den Wert einer bestimmten Form der Gleichheit, die als unverzichtbare Grundlage der Demokratie gilt. In diesem Zusammenhang müssen wir zwei Dinge klarstellen.

Erstens bedeutet die Tatsache, dass ein demokratischer Staat sich über eine gewisse Gleichheit seiner Bürger definiert, nicht automatisch, dass alle Bürger in jeder Hinsicht völlig gleich sind. Die Aussage, dass „alle Bürger die gleiche Würde besitzen“, impliziert allenfalls, dass sie etwas gemeinsam haben. Die Menschen sind also nicht alle in allen Punkten, sondern alle „in einem Punkt“ gleich.

Dieser „eine Punkt“, der sie alle nicht nur als Mitglieder eines Staates, sondern idealerweise als Teil der gesamten Menschheit auf ein und dieselbe Stufe stellt, ist eben die personale Würde des Einzelnen, die für jeden aus der gemeinsamen Zugehörigkeit zur menschlichen Natur erwächst. Deshalb kann niemand von uns eine besondere persönliche Eigenschaft – in Geschlecht, Rasse, Sprache oder Religion – geltend machen, um die Würde einer anderen Person zu unterdrücken. Diese Würde besitzt jeder einzelne Mensch von Natur aus, und das heißt, dass sie ihm nicht von anderen und nicht auf Kosten der anderen verliehen wird.

Zweitens ist das Prinzip der Gleichheit die Grundlage für eine vielfältige Palette von Unterschieden. Diese liegen in der Natur der Menschen selbst begründet, aus denen sich ein demokratischer Staat zusammensetzt.

Was genau hat das zu bedeuten?

Es bedeutet, dass wir trotz unserer Unterschiede in puncto Geschlecht, Alter und sozialem Umfeld nicht nur weiterhin Personen, sondern auch alle gleichermaßen Bürger sind, weil viele dieser Unterschiede in unserem Staat geschützt werden. Die Gleichheit der personalen Würde ist gerade deshalb ein Schlüsselwert der Demokratie, weil dieses grundsätzliche Bekenntnis nicht nur jegliche Diskriminierung und Gewalt, sondern auch die Gleichmachung vieler natürlicher Unterschiede ausschließt, zu denen nicht zuletzt auch der Geschlechterunterschied gehört.

Mit anderen Worten: Man kann nicht über die Gültigkeit solch grundlegender Unterschiede diskutieren, weil sie die natürliche und gemeinsame Voraussetzung jener Gleichheit sind, die das Leben einer Demokratie überhaupt erst ermöglicht.

Die verschiedenen Arten, die menschliche Natur zu leben und auszudrücken, basieren auf der Achtung der gleichen Würde und Freiheit der Personen. Die einzelnen Personen aber sind in ihrer individuellen, kulturellen und geschlechtlichen Entfaltung durch die gemeinsame und doch von Mensch zu Mensch auch jeweils unterschiedliche Zugehörigkeit zur menschlichen Natur geeint.

Natürlich können wir die Frage, was die menschliche Natur eigentlich im Einzelnen ausmacht, nicht endgültig klären. Wichtig ist jedoch, dass diese natürliche Gegebenheit dem Spiel der gerade aktuellen Meinungen und Deutungen entzogen und an eine allgemeingültige und wertegeprägte Vorstellung des Menschen gebunden wird, die aufrechterhalten werden muss, wenn die Demokratie selbst Bestand haben soll. Das Naturgegebene vom politisch Verhandelbaren zu unterscheiden, ist in einer Demokratie keine einfache Aufgabe. Aber die einzige nichtdemokratische Entscheidung, die für das Leben der Demokratie selbst unverzichtbar ist.

Andernfalls werden auch unsere Rechte, unsere Pflichten und unser Menschsein vom „Goodwill“ der jeweiligen parlamentarischen Mehrheit abhängig sein.



Joaquín Navarro-Valls
Begegnungen und Dankbarkeit: Erinnerungen und Gedanken des Pressesprechers von Papst Johannes Paul II.

Joaquín Navarro-Valls ist Mitglied des Opus Dei.

Quelle: http://www.kath.net/detail.php?id=32135